„Stell Dich nicht so an.“ Dieser Satz hat sie lange begleitet. Schon als kleines Mädchen war er immer im Raum, wenn sie als Scheidungskind auf einem der wenigen Besuche bei ihrem Vater weilte. Schmierte die Stiefmutter vom Dienst ihr ein Camembertbrot, obwohl sie Camenbert mit zu dem Schrecklichsten zählte, was auf ein Brot geschmiert werden konnte, dann hiess es „Stell Dich nicht so an“. Liefen ihr die Kinder der Stiefmutter vom Dienst mal wieder den Rang ab im Malwettbewerb oder bei der Wahl des Freizeitprogramms, ertönte ein „Stell Dich nicht so an.“
Zog die Mutter mal wieder aus beruflichen Gründen um und sie mußte mit Schlüssel um den Hals sich in eine neue Schulklasse integrieren und wollte nicht neben dem Mädchen mit der Warze am Finger sitzen, dann sagte die Lehrein in der Tübinger Grundschule „Stell Dich nicht so an.“ Ihr zaghafter Einwand nach der Stunde, dass sie mit der Banknachbarin ja immer gemeinsam Hand-in-Hand in den Schulhof würde gehen müssen und dabei unweigerlich mit der Warze in Berührung kam, blieb unerwidert. Später, auf dem Kepler-Gymnasium, als die Architektentochter Ursula das Zepter schwang, hatte der Klassenlehrer den gleichen Satz für sie parat, als sie sich endlich mal über die trägliche Mobbingohrfeige am Morgen beschwerte. Sie war doch die ohne Vater mit der Mutter, die einen anderen Namen trug. Scheidungskind eben und dann noch Schauspielerkind. Doppelt nicht koscher und dann noch anstellen. „Stell Dich nicht so an.“
Später sagte sie sich das selber stets, wenn sie eigentlich hätte nachsichtig mit sich sein oder sich selbst schützen sollte. Leichtes Spiel für einen Ehemann ohne Rücksicht oder Menschen ohne wirklichen Wert. „Stell Dich nicht so an.“ Ein Satz, der ihr Leben so lange beschwerte, bis sie selber schwer wurde – seelisch und körperlich.
Jahre später, sie hatte eigene Schlachten gegen den Satz geschlagen und schon manche gewonnen, nahm sie an einer Gedenkveranstaltung zum 20. Juli 1944 teil. Ihr Großvater war einer dieser stillen Helden gewesen, der sich widersetzt hatte, den Menschenverachtern, die 12 Jahre lang mit Krieg, Mord, Grauen und Hass Deutschland bestimmten. Widerstand hiess, sein Leben zu riskieren, um seine Menschlichkeit zu bewahren. „Stell Dich nicht so an.“ – hätte dieser Satz für ihren Großvater gegolten, dann hätte er das Grauen ertragen müssen, oder? Was hatte die Haltung des Großvaters alles für die Familie bedeutet? Ein Sohn als Kanonenfutter an die Front strafversetzt und planmäßig gestorben, ein Sohn als Minensucher ohne Beine entlassen, ein Sohn der Bigotterie verfallen und ihr Vater, der jüngste Sohn, indifferent immer dann, wenn Gefühle ins Spiel kamen. Immer bereit, zu akzeptieren, wenn etwas so ist, nie bereit, nach dem eisigen Schweigen der Verschwörung und der Angst offene Wort als Maßstab zu nehmen. „Stell Dich nicht so an.“ hatte seine Mutter seinerzeit zu ihm gesagt, wenn er unter den Folgen der Gradlinigkeit des Vaters litt, „Stell Dich nicht so an.“, sagt er heute selber zu seiner Tochter, wenn sie ihn als Vater forderte und er sich darauf keinen Reim machen konnte oder wollte.
Stolz war sie auf ihren Großvater und seine Haltung. Nicht stolz war sie auf die Verarbeitung des Erduldeten, die Schikanen, den Tod, die Verletzungen, da hatte die Familie versagt. Für die Menschlickeit hatte der Großvater sein Leben und das seiner Familie riskiert, Anstand bewiesen, dem grauenhaften Moloch getrotzt, aber die Menschlichkeit gegenüber den Engsten hatte er es nicht vermitteln können. Vielleicht hatte er keine Kraft mehr dafür gehabt, vielleicht hatte das erlebte Grauen zu viel aufgesogen. Die nächste Generation hätte es richten können, quasi als Auftrag, hatte es aber nicht angegangen, sondern sich auf unterschiedliche Art und Weise aus der Verantwortlichkeit gestohlen. Keiner von ihnen hatte begriffen, was für eine große Chance ein adäquater Umgang mit der historischen Rolle der Familie gewesen wäre. Ränkeschmieden und Gier war es nicht, was man daraus hätte lernen können, Schweigen und den Machtlöffel an unscheinbare Dritte abgeben auch nicht. Selbst Haltung bewahren, ohne Seditiva und ohne doppelten Boden, das war es, was man aus der Familienchronik für sich mitnehmen konnte. „Stell dich nicht so an.“ – nein! „Nimm wahr und handle – für Dich und Andere.“
Der Stellungswechsel vollzog sich langsam in ihr, aber das Andenken ihres Großvaters war ihr – anders als bei den Anderen – keine Bürde, sondern Hilfe.